Der bunte Hundekopf

Prelude – Es ist ziemlich genau 3 Jahre her, seit ihr hier etwas lesen konntet. In der Zeit ist einiges passiert – allem voran der Rückzug in meine Heimatstadt Berlin. Zum Auftakt ins Comeback der wortwanderung gibt es deswegen Eindrücke aus der Muddastadt.


Westend, 20:33 Uhr. Feierabend. Ich steige aus der Fahrkabine, nicke Hartmut, der den Zug ab hier übernimmt möglichst anonym zu und gehe den Bahnsteig entlang bis fast zum Ende.

Seit 40 Jahren fahre ich die Ringbahn. Noch 7 Monate, dann ist Schluss. Ich liebe diesen Job, auch wenn die Ringbahn eher Hundekopfbahn heißen müsste. Wir fahren schließlich nicht im Kreis, sondern malen einen Hundekopf in die Stadt, der (einige behaupten mitleidig) auf Spandau schaut. Auch mein Körper hat 40 Jahre in der Fahrkabine der Hundekopfbahn gesessen und das sieht man ihm an. Ich bin breit wie hoch, das meiste ist der Schwerkraft zum Opfer gefallen. Vielleicht sollte ich mal einen von diesen Sport-BHs ausprobieren. Die hängen zwar noch nicht in der Männerabteilung, aber meine – wie die Kids das heute nennen – Man Boobs könnten trotzdem einen gebrauchen.

Noch ohne BH bereite ich mich auf die letzte Runde vor. Traditionell fahre ich zum Abschluss meiner Schicht eine Runde im Gästeraum. Die letzte Runde am Tag ist meine liebste. Das Gefühl der Arbeit, des Zwangs ist verklungen. Ich kann denken, die Umgebung beobachten. Ich suche den Wandel, etwas Neues und rede nicht über die allgegenwärtige Gentrifizierung oder die immer gleich freiheitsliebenden Insassen. Ich suche weder Häuser noch Menschen. Ich suche Graffiti und Berlin ist Graffiti. Es ist das Einzige in der Stadt, das sich immer ändert.

Einsteigen, losfahren. Die Bahn ist neu. Die Menschen auch, zumindest in Berlin. Sie wollen in Freiheit einzigartig sein. Aber das sind wir hier alle und damit machen wir uns selber unsere freie Einzigartigkeit wieder kaputt. Also sind wir eben gleich.

Weil es eine neue SBahn ist, kenne ich die Geräusche noch nicht. Das lenkt mich vom Denken ab. Obwohl es eine neue SBahn ist, geht das Licht mal an und gleich wieder aus. Das könnte ich der Leitstelle melden, mache ich aber nicht. Die Stadt ist kaputt, auch die neuen Dinge sind kaputt. Die SBahn ist neu und ich vermisse ein bisschen die grünen Würmchensitze.

Aus Gewohnheit setze ich mich ins leerste Abteil – hier kann ich in Ruhe nach den bunten Bildchen Ausschau halten. Es ist aber sowieso ruhig. Wir sind in der Zwischenzeit: die Zeit zwischen Feierabend und Freizeit. Es sind wenige Menschen in der Bahn und die, die da sind, sind mit sich selber beschäftigt. Nur aus der Ferne – also: aus den anderen Wagenabteilen, nicht vom „fernen Horizont“ her oder so – dringen Stimmen an mein Ohr.

Westhafen, es wird voller. Von hier bis Ostkreuz kenne ich jeden Gleisbettstein, jede Wand, jedes Throwup. Ich bin ja sowas von zu Hause hier in der so kaputten Stadt. Im Wagen ist es zwar voll aber immer noch leise, fast gespenstig. In der stetigen Ruhe kommen wir zu meinem persönlichen Hundekopf-Highlight: Gesundbrunnen! Nicht nur ich bin hier zu Hause, auch

Thaki68, YG, XL, THC und… Klassiker PENIS.
Berlin ist eben Graffiti.

Hier wird’s voll. Es ist erfrischend so viele verschiedene Sprachen zu hören. Scheinbar ist der Ostring auch in Zeiten der Gentrifizierung eine gute Adresse für Berliner Kulturen.

Aber die Gesprächsfetzen wollen einfach nicht in mein Bewusstsein dringen, auch nicht, die in den Sprachen, die ich verstehe. Vielleicht bin ich zu sehr Großstadt geworden, zu anonym. Oder vielleicht ist es ja doch zu langweilig, was weiß denn ich. Schönhauser Allee: Jetzt riecht es nach kaltem Rauch. Man, wie gerne möchte ich eine(n) rauchen. Just in diesem Moment erinnert mich das allabendliche Sodbrennen daran, dass es mein Tod bedeuten würde (habe ich das gerade wirklich gedacht? JUST?). Ich werde alt.

DFG, WMA, SPIDER (ich liebs) und CMD

Alles hängt am Handy. Naja, fast alle. Oh…ein Pärchen steigt ein, sie ist auch am Telefon.
„Ari!? Ja, ich bin jetzt fertig. Sieht super aus, aber tat echt weh. Naja, Oberarm Innenseite. Warum bist’n so komisch? Gut, wir sind jetzt auf’m Heimweg. Wie geht’s Lotti? Besser? Schöne Grüße, bis dann.“
Ich erfahre noch, dass Lotti eine Gehirnerschütterung erlitten hat, bevor sich meine Aufmerksamkeitsspanne wieder schließt und ich weiter verträumt aus dem Fenster schaue. Apropos Fenster – das will ich öffnen. Aber die Bahn ist neu und deswegen geht das nicht.

Storkower Straße: Da, die Lady da trägt mein Outfit. Kann ich also doch einen Sport-BH kaufen gehen! Landsberger, Frankfurter und Ostkreuz fliegen an mir vorbei. Es stinkt…nach Waschmittel und glücklicherweise müssen wir umsteigen… im RING! Nach kurzer Pause bin ich bzw. sind wir (ach, ich weiß das doch auch nicht wer und wie viele) wieder on track.

Auf dem Track sagt hinter mir jemand „Ich hab direkt in Neukölln gewohnt.“ Und das erinnert mich daran, dass wir noch durch Neukölln müssen. Es läuft mir kalt den Rücken runter. Mir ist da was passiert.

1UP, GRATIS, BOYS

Ein Raver in meinem Alter aber mit ohne Bedarf an Büstenhalter sitzt mir mit Wasser, Mukke, Sonnenbrille und irgendwie kaputt aber sehr authentisch gegenüber. Kaputt und authentisch, wie die Stadt. Er passt hier ziemlich gut rein, denke ich und sehe eine Wand aus sattgrünen Bäumen neben Plattenbau. Das ist eben auch Berlin. Lautes Kaugummischmatzen hinter mir, holt mich aus diesen fast schon pathetischen Gedanken heraus. Danke Kaugummi! Sonnenallee und ich werde nervös. Rechts ist das kleine Café in dem wir mal waren und meine Nervosität legt sich ein bisschen. Und dann Neukölln…aber bisher, keine Waffen…wird schon, versuche ich mich selbst zu beruhigen und schaue wieder aus dem Fenster.

SMO.C, PHARAO, PARADOX, wieder 1UP

Die Architektur ist der Wahnsinn, die Mieten sicher auch. Wir fahren Herrmannstraße ab. Niemand ist verletzt, keiner schießt (Gendern muss ich in diesem Fall ja nicht). Tempelhof, und mein Puls normalisiert sich. Das ist Vickys Hood. Hier passiert mir nichts, hat sie mal versprochen. Wir sind also wieder raus aus der Gefahrenzone.

Inzwischen ist der Mond da, die Bahn aber immer noch auffällig leise – außer das Kaugummischmatzen, das ich mit der Zeit immer sympathischer finde. Neues Abteil, dieselbe Kulisse. Wir sitzen alle auf demselben Platz: am Fenster, in Fahrtrichtung. Soviel zur Diversität.

LTX, LMX, WAR, immer 1UP, ERTHC

Rechts das Tempelhofer Feld und natürlich Kleingärten. Viel Wirbel um nix, aber alle steigen aus. Alle auf diesem Feld machen dasselbe und fühlen sich so independent. Das Wort habe ich sie sagen hören. Ich wette, mit meinem SportBH würde hier trotzdem niemand rechnen. Am Südkreuz reflektiere ich meinen kulinarischen Tiefpunkt der Woche – Mäccis. Das Teufelszeug bleibt angeblich ein Leben lang im Körper. So sieht mein Körper halt auch aus. Südkreuz heißt aber auch: „Videoüberwachung mit Gesichtserkennung“. Es geht nicht weg, es fällt mir hier immer, wirklich immer, zusammenhanglos ein.

HELL CREW. AMG. HELL! TLS

Zwischen Schöneberg und Heidelberger Platz wird rechts hinter mir über finanzielle Ungleichheit diskutiert, und beschlossen, es sei alles so lächerlich. Touché, ihr white privileged Schönebergis! Ich kann nicht anders als abschätzig zu lachen und sofort tut es mir leid. Was weiß ich schon über die anderen Weißen, aus dem reichen Mittel- und Westeuropa? Schuldig schaue ich nach links, um die Neubaufront für geschlagene 2 SBahnstationen nichts denkend zu beobachten. Direkt danach schließen sich feine Reihenhäuser an, bevor die SBahnstrecke an der Stadtautobahn verläuft und die Mobilitätswende in direkter Konkurrenz ausgefochten werden kann.

LMX, U.T., dicke Probs an PARADOX und niemals ohne 1UP

Es wird dunkel, sodass die Graffiti verschwinden. Die finanziellen Ungleichheiten hinter mir steigen aus, während es um einen Youtube-Kanal geht, der… ach egal. Ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte, bin müde und will ins Bett.

Nach 68 Minuten sind wir, also bin ich, zurück am Westend und ohne weitere Umwege geht es direkt nach Hause. Noch 7 Monate Hundekopfbahnfahren. Ich bin müde, aber dankbar über die bunten Buchstaben-Highlights in der authentisch kaputten Muddastadt.


Es ist eine Hassliebe ❤


Bleibt gespannt, AL

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