Er hätte es besser wissen können. Schließlich hatte er seit Jahren so ein Gefühl in der Magenregion verspürt, das er nicht genau einzuordnen wusste. Jetzt war alles klar. Sein Unterbewusstsein hatte ihn warnen wollen. Hätte er dieses Gefühl doch nur ein wenig intensiver zugelassen, hätte er die Warnung sicher bemerkt. Aber er war eben nicht besonders gut darin, sich selber zu verstehen oder gar in Kommunikation mit seiner Gefühlswelt zu treten. Wie dem auch sei, nun war es zu spät. Nun brauchte er nicht in sich rein zu hören um den Schlamassel klar und deutlich sehen zu können. ‘Schöne Scheiße‘, dachte er und sein Blick fiel noch bitterer als die braune Brühe selbst auf den Kaffeebecher, der vor ihm auf dem teuren Mahagonie-Esstisch, den er extra hat einfliegen lassen, stand. Bitter sahen ihn auch die anderen Augenpaare an, dessen Besitzer sich an der ihm gegenüberliegenden Tischseite und in einer Reihe positioniert hatten.
Er befand sich in einem Verhör, da war er ganz sicher. Und alle, mit Ausnahme seiner Frau selbstverständlich, sahen ihn bereits als Schuldigen. Dabei war doch eigentlich er das Opfer. Dass Lügen allgemein als schlecht erachtet wird, ist natürlich auch ihm bewusst. Aber gelogen hat er ja gar nicht wirklich. Er hat lediglich nicht alles heraus posaunt und überhaupt, hat ihn ja nie jemand gefragt. Es war regelrecht unfair ihn so an den Pranger zu stellen.
Was sie sich einbilden! Schließlich lebt doch jeder einzelne von ihnen auf seinem Grundstück – ja in seinem Haus. Auch wenn das Haus in mehrere Parteien eingeteilt ist, würde er doch wohl noch seinen eigenen Grund und Boden betreten dürfen. Privatsphäre sei lächerlich.
„Ihr wart doch nicht mal zu Hause!“, murmelte er energisch in seine Kaffeetasse.
Anfänglich wollte er bei den Rundgängen durch die Wohnungen lediglich die Stromkabel und die Heizungsrohre überprüft wissen. Aber die Freiheit, die er bei seiner allerersten Überprüfung verspürte, übermannte ihn regelrecht. Im selben Moment war er süchtig nach diesem Kribbeln in der Magenregion geworden und schließlich gehörte ihm das ganze Haus und da war es nur sinnvoll regelmäßige Kontrollen durch zu führen. Also setzte er seine Rundgänge fort. Jede Wohnung, einmal in der Woche. Es war zu seinem Ritual geworden; seine eigene Zeit, in der er ganz allein ein kleines Geheimnis ausbrütete. Er hatte sich in all den Jahren nie etwas anmerken lassen. Auch an dem Tag nicht, als er bei seiner jüngsten Tochter – er war gerade dabei, ihren Kleiderschrank genauer zu inspizieren – das kleine Tütchen mit dem weißen Pulver entdeckte.
Niemand hatte auch nur einen Verdacht geschöpft – bis zum verhängnisvollen Mittwoch letzter Woche. Er hatte wieder ein der neuen schönen Kleider seiner Schwiegertochter anprobiert. Er betrachtet sich gerade vor dem großen Wandspiegel im Schlafzimmer als die Besitzerin des Kleides spontan früher von der Arbeit nach Hause kam. Das hätte er ja niemals wissen können. Das war einfach Pech gewesen.
Jetzt beschimpfte sie ihn lautstark, machte ihm wütend Vorwürfe und zog sogar seinen eigenen Sohn in ihren Bann. Auch seine Tochter und die anderen vier Mieter stimmten mit ein. Nur seine starke Frau saß stumm am Mahagonietisch. Was musste sie sich hier alles anhören. Aber das würde ihre Beziehung überleben, dafür er würde er sorgen. Er würde ihr die Wahrheit sagen und ihr alles erklären. Nur die Kameras in den Badezimmer müsste er unerwähnt lassen. Aber danach würde sie ihn sowieso nicht fragen und deswegen würde er nicht lügen müssen. Ach, seine kluge liebende Frau!
Bleibt ehrlich! AL